Es ist der 20. November 2022, und genau fünf Jahre sind vergangen, seit mein Freund und Fotokollege Joachim von uns gegangen ist. Es fühlt sich an, als wäre es gestern gewesen, dass wir unsere Kameraausrüstung zusammenpackten und frühmorgens aufbrachen, um neue Abenteuer zu erleben. Joachim war immer jemand, der die Welt auf seine ganz eigene Art und Weise sah. Für ihn erzählten selbst die stillsten Orte Geschichten, und seine Leidenschaft war es, diese Geschichten durch seine Fotografien lebendig zu machen. Heute denke ich besonders an ihn und unsere vielen gemeinsamen Touren – durch verlassene Orte, die niemand mehr betrat, durch Ruinen, die von vergangenen Zeiten zeugten. Der Zug, der im Bild zu sehen ist, erinnert mich an ihn und seine Liebe zur Ruhe und Beständigkeit.
Joachim und ich haben viele Stunden in alten, verlassenen Gebäuden verbracht. Vor allem diese Lost Places – verfallene Fabriken, stillgelegte Industrieanlagen und majestätische Herrenhäuser, die ihre besten Tage längst hinter sich hatten – faszinierten uns beide. Diese Orte waren für uns nicht nur Motive, sie waren Zeitkapseln, die die Geschichte in jedem Detail bewahrten.
Ich erinnere mich an eine Tour zu einem alten, heruntergekommenen Herrenhaus. Es war ein Ort, der schon seit Jahrzehnten nicht mehr bewohnt wurde. Die Luft war schwer von Staub, der sich in den Sonnenstrahlen fing, die durch die zerschlagenen Fenster fielen. Joachim war in solchen Momenten immer voll in seinem Element. Wo andere nur leere Räume sahen, entdeckte er Details, die Geschichten erzählten – ein zerbrochener Spiegel, dessen Glas in tausend Stücke zersplittert war, ein altes, vergammeltes Klavier in der Ecke eines Raums, das seit Jahren keinen Ton mehr von sich gegeben hatte.
Unsere Touren begannen immer frühmorgens, bevor die Welt um uns herum aufwachte. Diese Stille war es, die Joachim besonders liebte. Er konnte stundenlang durch die leeren Gänge dieser Gebäude wandern, sich jeden Winkel ansehen, jedes kleine Detail in seiner Kamera festhalten. Für ihn war Fotografie mehr als nur ein Hobby – es war eine Art, die Welt zu verstehen. Durch das Objektiv seiner Kamera sah er die Welt in all ihrer Fragilität und Schönheit.
Besonders beeindruckend fand ich seine Fähigkeit, inmitten des Verfalls etwas Wertvolles zu entdecken. Ein verstaubtes Treppengeländer, an dem sich die Farbe schon seit Jahren löste, oder eine verrostete Maschine in einer alten Fabrik – für Joachim waren das nicht einfach verlassene Gegenstände, sondern Zeugnisse einer Vergangenheit, die es wert war, bewahrt zu werden.
Neben den Herrenhäusern waren es vor allem die verfallenen Industrieanlagen, die Joachim besonders in ihren Bann zogen. Alte Fabriken, die einst das Herzstück ganzer Städte waren, jetzt aber nur noch stille Ruinen, die sich dem Verfall ergaben. Hier fand Joachim seine Motive: Die riesigen, verlassenen Hallen, in denen einst Maschinen auf Hochtouren liefen, die heute nur noch von Staub und Stille erfüllt waren. Für ihn waren diese Orte wie vergessene Monumente – Symbole für eine Zeit, die längst vergangen war.
Es waren nicht die großen, spektakulären Szenen, die Joachim faszinierte. Es waren die kleinen, oft übersehenen Details – eine verbogene Schraube, die sich aus der Wand löste, ein alter Werkzeuggürtel, der noch an einem Haken hing, als ob der Arbeiter jeden Moment zurückkehren würde. Diese Details waren es, die ihm halfen, die Geschichten dieser Orte zu erzählen.
Obwohl unsere Touren durch die Lost Places das waren, was uns am meisten verband, war Joachims Arbeit als Lokführer ein wesentlicher Teil seines Lebens. Der Zug, den er meistens fuhr – eine Vossloh G 1000 BB, Baujahr 2009 – war für ihn mehr als nur ein Transportmittel. Er sprach oft von den langen Fahrten, die er allein mit dieser mächtigen Maschine unternahm. Für ihn waren Züge nicht nur Fortbewegungsmittel, sondern auch Verbindungen zwischen Orten, zwischen Menschen und Zeiten.
Die Vossloh G 1000 BB, die er fuhr, war ein Arbeitstier. Keine hochmoderne, elegante Maschine, sondern eine starke und zuverlässige Lokomotive, die ihre Aufgabe ohne viel Aufsehen erledigte – genau wie Joachim. Diese Lokomotive trug schwere Lasten über weite Strecken, so wie Joachim oft die Verantwortung in seinem Leben trug, ohne sich darüber zu beschweren. Er fand in diesen Fahrten eine Art Frieden. Der gleichmäßige Takt der Schienen, das stetige Vorwärtsbewegen – all das half ihm, seine Gedanken zu ordnen, während er durch die Landschaften fuhr.
Joachims Tod kam plötzlich und unerwartet. Es war ein schockierender Verlust, den ich bis heute nicht ganz verarbeiten kann. Eine Lungenembolie, ausgelöst durch eine Verletzung, die er sich bei einer unserer Touren zugezogen hatte. Wir dachten damals, es sei nichts Ernstes. Doch wie das Leben manchmal so grausam spielt, wurde aus einer kleinen Verletzung eine tödliche Komplikation.
Als ich die Nachricht bekam, fühlte es sich an, als wäre die Welt für einen Moment stillgestanden – ähnlich wie die Uhr in der verlassenen Fabrik, die Joachim so fasziniert hatte. Der Schmerz war überwältigend, aber ich fand Trost in den Erinnerungen, die wir gemeinsam geschaffen hatten. Jeder Ort, den wir besuchten, jede Fotografie, die wir machten, ist ein Stück von Joachim, das weiterlebt.
Joachim ist nicht mehr hier, aber er ist nie wirklich weg. In jedem verlassenen Ort, den ich besuche, in jeder Fotografie, die ich mache, höre ich seine Stimme. Er lebt weiter in den Bildern, in den Erinnerungen, und in den stillen Momenten, die wir teilten. Der Zug, der in diesem Artikel erwähnt wird, steht für all die Reisen, die wir unternommen haben – nicht nur die physischen, sondern auch die Reisen durch unsere Erinnerungen und Gedanken. Ich bin dankbar, dass ich diese Zeit mit ihm teilen durfte. Vielleicht ist er jetzt auf einer anderen Reise, mit dem Zug nach Irgendwo.
Quellen:
Dieser Beitrag basiert auf meinen persönlichen Erinnerungen an Joachim und unsere gemeinsamen Touren durch verlassene Orte. Die technischen Informationen zur G 1000 BB stammen aus Gesprächen, die wir während unserer Fototouren führten.
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